Erster Weltkrieg und
    Besatzung 1918-1930
    in Rheinland-Pfalz

    Französische Besatzung in Mainz 1918-1930

    Revolution und Kriegsende

    Ausrufung der Republik in Mainz durch den Sozialdemokraten Bernhard Adelung auf der Freitreppe der Stadthalle am 10. November 1918 (Postkarte).[Bild: Stadtarchiv Mainz BPSK/625]

    Die vom Kieler Matrosenaufstand ausgehende Revolution kriegsmüder Soldaten und Arbeiter griff im November 1918 schnell auf das ganze Reich über. In zahlreichen Städten bildeten sich innerhalb kürzester Zeit sogenannte Arbeiter- und Soldatenräte, welche die politische Gewalt in den Kommunen übernahmen, die Beendigung des Krieges einforderten und zum Sturz der Monarchie aufriefen.

    In Mainz lösten die im Laufe des 9. November eintreffenden Nachrichten von der Absetzung des hessischen Großherzogs durch revoltierende Soldaten, der Abdankung Kaiser Wilhelms II. und der Ausrufung der Republik in der Reichshauptstadt heftige Unruhen aus.[Anm. 1] Aus dem Mainzer Militärgefängnis und dem Landgerichtsgefängnis wurden Gefangene befreit, ohne dass das Gouvernement der Festung Mainz eingegriffen hätte. Der Festungsgouverneur hatte inzwischen die Stadt verlassen und zahlreiche Soldaten zogen in revolutionärer Stimmung durch Mainz. Mehrere Heeresmagazine wurden durch die Bevölkerung geplündert, so etwa das Militärproviantamt, die Bekleidungsmagazine und der Pionier-Heerespark. Viele Ladenbesitzer hielten aus Angst vor weiteren Plünderungen vorsorglich ihre Geschäfte geschlossen.

    Dem am 10. November gebildeten Mainzer Arbeiter- und Soldatenrat gelang es jedoch schnell, Ruhe und Ordnung in der Stadt wiederherzustellen. Er richtete sich umgehend in einem Aufruf an die Bevölkerung: „Der Ausschuß des Arbeiter- und Soldatenrats übernimmt die vollziehende Gewalt. Er […] gewährleistet die Sicherheit der Bevölkerung und des Eigentums. Plünderungen und Straßenraub werden mit dem Tode bestraft. Alle militärischen und zivilen Behörden üben ihre bisherige Verwaltungstätigkeit weiter aus. Sie werden im Einvernehmen mit dem Ausschuß alle Maßnahmen treffen, die im Interesse der Bevölkerung, namentlich zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Ruhe und zur Sicherung der Ernährung notwendig sind. […] Der Arbeiter- und Soldatenrat erwartet von der Einsicht der Bürger und Soldaten, daß sie in diesen schweren Tagen sich allen Anordnungen fügen, um einen sicheren Uebergang in eine bessere und glücklichere Zukunft zu gewährleisten“.[Anm. 2]

    Dem Ausschuss des Arbeiter- und Soldatenrats gehörten je sieben Vertreter der in Mainz stationierten Soldaten sowie der SPD bzw. der Gewerkschaften an. An seiner Spitze standen der sozialdemokratische Mainzer Stadtverordnete und Landtagsabgeordnete Bernhard Adelung und ein Leutnant Wirth. Adelung sprach am Vormittag des 10. November auf einer von 15.000 bis 20.000 Menschen besuchten Kundgebung im Schlacht- und Viehhof und führte anschließend einen Demonstrationszug durch die Stadt bis zum Halleplatz. Dort rief er vor der Stadthalle die Republik aus.[Anm. 3]

    Einen Tag später endeten mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens von Compiègne die Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs. Trotz aller Erleichterung über das Kriegsende blickte man in Mainz mit Sorge in eine ungewisse Zukunft. Die Bevölkerung fürchtete neue Entbehrungen und reagierte geradezu geschockt auf die Bekanntgabe der harten Waffenstillstandsbedingungen der Alliierten. Insbesondere die angekündigte Besetzung des linken Rheinufers durch die Siegermächte, einschließlich rechtsrheinischer Brückenköpfe bei Mainz, Koblenz und Köln, sorgte für Unruhe.[Anm. 4]

    Ehrenpforte am Binger Schlag in Mainz zum Empfang der von der Westfront heimkehrenden deutschen Truppen im November 1918.[Bild: Stadtarchiv Mainz BPSF/5385A]

    Nach dem Inkrafttreten des Waffenstillstands wurde Mainz zum Verkehrsknotenpunkt für die Rückführung des Westheeres. Während des Krieges war die Festungsstadt ein wichtiger Truppenstandort für den Nachschub an die Front gewesen, jetzt strömten die Soldaten über die Mainzer Rheinbrücken zurück in die Heimat. Ende November und Anfang Dezember 1918 erreichte der Durchzug der von der Westfront heimkehrenden deutschen Truppen durch Mainz seinen Höhepunkt. An den Zugängen zur Stadt und an den Hauptplätzen wurden geschmückte Ehrenpforten errichtet und die von den Entbehrungen des Kriegs gezeichneten Soldaten wurden von der Bevölkerung feierlich empfangen.[Anm. 5]

    Die Menschen in Mainz waren dankbar dafür, dass die Front bis zuletzt nicht deutschen Boden erreicht hatte, obgleich nur die wenigsten unter ihnen das ganze Ausmaß der Verwüstungen im Kampfgebiet erahnen konnten. Der Empfang der heimkehrenden Truppen erweckte mitunter den Eindruck, als würde das deutsche Heer siegreich das Feindesland verlassen. So war in manchen Mainzer Zeitungen zu lesen, die Soldaten würden „als ungeschlagene, unbesiegte Helden in die Heimat zurückkehren.[Anm. 6] Solche Berichte waren natürlich dazu geeignet, der „Dolchstoßlegende“ Vorschub zu leisten.

    Französische Besatzung

    Am 4. Dezember 1918 war der Durchmarsch der deutschen Truppen durch Mainz im Wesentlichen beendet. Nun rüstete sich die Stadt für den Einmarsch der französischen Besatzungstruppen. Der Mainzer Anzeiger mahnte die Bevölkerung: „Es ist selbstverständlich und die Pflicht eines jeden, dem Feinde mit Ruhe, Ernst und Würde zu begegnen, dazu gehört nicht, dass aus Missverständnis die Fahnen, die zur Begrüßung unserer Soldaten dienten, dann noch wehen. Es wird darum Sache aller Bürger sein, Fahnen und anderen Schmuck rechtzeitig zu entfernen“.[Anm. 7]

    Einer französischen Militärkommission, die am 8. Dezember in Mainz eintraf, folgten einen Tag später die ersten 1.000 Besatzungssoldaten. In der Folgezeit musste Mainz, das Sitz des Oberkommandos der 10. Französischen Armee wurde, zeitweise rund 20.000 Soldaten und Zivilangestellte der Besatzungsarmee aufnehmen. Viele von ihnen wurden zwangsweise bei Privatleuten einquartiert, da die vorhandenen Kasernen maximal 17.500 Mann aufnehmen konnten. Die nun folgende Besatzungszeit prägte für über ein Jahrzehnt entscheidend den Alltag der Menschen in Mainz. Besonders in der ersten Phase der Besatzung litt die Bevölkerung unter den von der französischen Militärregierung verfügten Einschränkungen des täglichen Lebens. Die Franzosen beschlagnahmten zahlreiche Wohnungen und öffentliche Gebäude, was angesichts der ohnehin schon bestehenden Wohnungsnot große Probleme mit sich brachte. Sie verhängten außerdem Ausgangssperren zwischen acht Uhr abends und sechs Uhr morgens und untersagten zunächst vollständig den Verkehr mit dem rechtsrheinischen Reichsgebiet.[Anm. 8]

    Ankunft der ersten französischen Besatzungstruppen am Hauptbahnhof Mainz am 9. Dezember 1918.[Bild: Stadtarchiv Mainz BPSF/2415A]

    Der kommandierende General der Besatzungstruppen Charles Mangin war darüber hinaus bemüht, die Kommunikation zwischen dem besetzten Gebiet und der hessischen Landesregierung in Darmstadt vollständig zu unterbinden, was die Führungsspitze der Stadtverwaltung allerdings durch geheime Kontakte zu umgehen versuchte. Der den Besatzern missliebige Oberbürgermeister Dr. Karl Göttelmann musste schließlich im Februar 1919 zurücktreten, da die Stadtverordnetenversammlung über die eigenmächtige Einführung des Französischunterrichts an den Schulen durch die Militärregierung debattiert und damit den Unwillen Mangins provoziert hatte. Nachfolger Göttelmanns wurde der seitherige Beigeordnete Dr. med. Karl Külb.[Anm. 9]

    Besondere Probleme bereiteten der Stadtverwaltung im Winter 1918/19 die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln. Die Blockadebestimmungen der Alliierten und die Einschränkungen im Verkehrswesen hatten dafür gesorgt, dass bestimmte Nahrungsmittel knapp wurden. Eine Unterversorgung entstand beispielsweise bei Milch und Milchprodukten, aber auch bei Kartoffeln und Fleisch. Das in Mainz ansässige Versorgungsamt für das besetzte hessische Gebiet wies auf einen direkten Zusammenhang zwischen der Mangelernährung und der festgestellten erhöhten Sterblichkeit bei Kindern und Kranken hin. Eine Verbesserung der Versorgungssituation trat erst ein, als die französische Besatzungsmacht in richtiger Einschätzung der kritischen Lage ab Frühjahr 1919 Nahrungsmittel wie Reis, Fleisch und Fett zur Verteilung brachte.[Anm. 10]

    Separatistische Bestrebungen

    In dieser angespannten wirtschaftlichen und politischen Lage wurden Pläne zur Gründung einer „Rheinischen Republik“ laut. Protagonisten einer solchen Idee in Mainz und Rheinhessen waren der im benachbarten Wiesbaden ansässige ehemalige Staatsanwalt Hans Adam Dorten und der Mainzer Kunsthistoriker Franz Theodor Klingelschmitt. Dorten nahm in Mainz Kontakt mit General Mangin auf, der solchen Bestrebungen wohlwollend gegenüberstand, und rief am 1. Juni 1919 gegen den Willen der Reichsregierung die „Rheinische Republik“ aus.[Anm. 11]

    In den größeren Gemeinden Nassaus, Rheinhessens und der Pfalz wurden Plakate angeschlagen und Flugblätter verteilt, die die Bildung einer solchen Republik als Bundesstaat des Deutschen Reichs ankündigten. Dabei wurde betont, dass man lediglich die Trennung von Preußen anstrebe, aber „treu zum Deutschen Reiche“ stehe.[Anm. 12] Die große Mehrheit der Bevölkerung in dem betroffenen Gebiet misstraute aber diesen Bekundungen. Es wurde befürchtet, dies sei nur der erste Schritt zur Loslösung vom Reich. In Mainz und anderen Orten in Rheinhessen kam es daher am 2. Juni 1919 zu einem vierundzwanzigstündigen Generalstreik aus Protest gegen die Ausrufung der „Rheinischen Republik“.[Anm. 13]

    Separatisten mit der grün-weiß-roten Fahne der „Rheinischen Republik“.[Bild: Stadtarchiv Mainz BPSF/872B]

    Obwohl ersichtlich war, dass die von Hans Adam Dorten geführte „vorläufige Regierung der Rheinischen Republik“[Anm. 14] auf weitgehende Ablehnung in der Bevölkerung stieß, erhielt die Gruppe Unterstützung durch General Mangin. In einem noch am 2. Juni 1919 durch ihn veröffentlichten Aufruf kritisierte Mangin den Streik gegen die „Beförderer der Rheinischen Republik, die eine sehr grosse Stimmenmehrheit in der Bevölkerung hätten.[Anm. 15] Er kündigte außerdem an, die „Führer entgegengesetzter Kundgebungen […] aus dem besetzten Gebiete“ ausweisen zu lassen.[Anm. 16] Kurz darauf wurden mehrere Kommunal- und Landespolitiker auf Anordnung Mangins ins unbesetzte rechtsrheinische Gebiet ausgewiesen, darunter auch der seinerzeitige Mainzer Beigeordnete und Präsident des hessischen Landtags Bernhard Adelung, der später hessischer Staatspräsident werden sollte. Auch einige Mainzer Lehrer mussten das besetzte Gebiet verlassen, weil sie sich nach Ansicht des kommandierenden Generals der Besatzungstruppen „durch Schließung der Klassen und wegen Versuchs, die ihnen anvertrauten Kinder mitten in politische Kämpfe zu verwickeln“ schuldig gemacht hätten.[Anm. 17]

    Die französische Militärregierung sollte in der Folgezeit noch häufiger vom Instrument der Ausweisung Gebrauch machen, um sich missliebiger Personen zu entledigen. Zunächst aber musste sie feststellen, dass das Vorhaben, eine „Rheinische Republik“ zu errichten, mangels Unterstützung aus der Bevölkerung zum Scheitern verurteilt war.

    1923 kam es allerdings im Zuge der Ruhrkrise zu einem Aufleben der Bewegung. Nach der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen wegen rückständiger Reparationsleistungen des Deutschen Reichs folgte man auch in Mainz und Rheinhessen dem Aufruf der Reichsregierung zum passiven Widerstand in den besetzten Gebieten durch massenhafte Arbeitsniederlegungen und durch die Missachtung von Anordnungen der französischen Besatzungsbehörden.[Anm. 18]

    Zu einem ernsthaften Konflikt kam es während der Verhandlungen gegen Fritz Thyssen sowie gegen drei weitere Zechenbesitzer und zwei Direktoren staatlicher Zechen vor dem französischen Kriegsgericht in Mainz am 24. Januar 1923. Die Angeklagten mussten sich vor Gericht verantworten, weil sie die Kohlenlieferungen nach Frankreich und Belgien unterbrochen hatten. Vor dem Landgerichtsgebäude und an anderen Stellen in Mainz kam es zu Kundgebungen für die Angeklagten und zu nationalistischen und feindseligen Äußerungen gegenüber der französischen Besatzungsmacht. Selbst vor tätlichen Angriffen gegen Besatzungsangehörige und französische Einrichtungen schreckten die Demonstranten nicht zurück. Die Franzosen reagierten darauf mit äußerster Härte und trieben die Ansammlungen mit Waffengewalt auseinander. Dabei kamen auch einige der in Mainz stationierten Truppen aus den nordafrikanischen Kolonien Frankreichs zum Einsatz.[Anm. 19] Das verstärkte die Abneigung weiter Teile der Bevölkerung gegen die von deutscher Politik, Presse und Öffentlichkeit als „Schwarze Schmach[Anm. 20] verfemten Kolonialsoldaten.

    Die Ausschreitungen und die Beteiligung der Bevölkerung und Behörden im besetzten Gebiet am passiven Widerstand gegen die Ruhrbesetzung beantwortete die französische Militärregierung mit zahlreichen Verhaftungen und Ausweisungen. Bis Mitte 1923 mussten über 5.000 Mainzerinnen und Mainzer zeitweise die Stadt verlassen. Unter ihnen waren auch hochrangige Vertreter der Stadtverwaltung wie Oberbürgermeister Dr. Külb und der Bürgermeister und Beigeordnete Bernhard Adelung.

    Gerichtsverhandlung gegen Fritz Thyssen (Anklagebank, stehend) und weitere Zechenbesitzer vor dem französischen Kriegsgericht in Mainz am 24.1.1923.[Bild: Stadtarchiv Mainz BPSF/7756A]

    Die desaströsen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Krisenjahres 1923 führten dazu, dass im besetzten Rheinland nun wieder verstärkt separatistische Aktivitäten zu beobachten waren. Seit dem Spätsommer 1923 fanden in Rheinhessen zahlreiche Versammlungen separatistischer Gruppierungen statt, so etwa am 22. September eine Zusammenkunft von 500 Anhängern des Kölner Separatisten Josef Smeets in Mainz.[Anm. 21]

    Im Oktober 1923 kam es schließlich in mehreren rheinischen Städten zu bewaffneten Umsturzversuchen durch Anhänger der „Rheinischen Republik“. Am 23. Oktober gelang es 150 bis 200 Separatisten, den Erthaler Hof in Mainz zu besetzen. Das Gebäude war der Sitz der rheinhessischen Provinzialregierung und des Kreisamts Mainz. Die Separatisten hissten hier die grün-weiß-rote Fahne der „Rheinischen Republik“ und ernannten eine aus ihren Reihen gebildete neue Regierung der Provinz Rheinhessen. Unterstützung erhielten sie durch die französische Besatzungsmacht, die diese neue Provinzialregierung sogar als rechtmäßig anerkannte. In den folgenden Wochen aber mussten die Franzosen erkennen, dass die „Rheinische Republik“ wie schon 1919 auf erbitterten Widerstand in der Bevölkerung und bei den deutschen Verwaltungsbehörden im besetzten Gebiet stieß. Sie zogen ihre Unterstützung für die Separatisten zurück, so dass der Umsturzversuch letztlich im Sande verlief. In Mainz wurde schließlich im Februar 1924 der Erthaler Hof endgültig von den Separatisten geräumt.[Anm. 22]

    Besatzungsende

    Mit der Beendigung des „Ruhrkampfes“ im Spätjahr 1923, der Überwindung der politischen Krise und der von Außenminister Gustav Stresemann betriebenen Annäherung an Frankreich entspannte sich ab Mitte der 1920er Jahre auch in Mainz spürbar das Verhältnis zur französischen Besatzungsmacht. Frankreich betrieb nun seinerseits eine weniger restriktive Besatzungspolitik und führte seine schon 1919 begonnene Politik der „pénétration pacifique“ weiter. Die französische Regierung versuchte auf diesem Weg, den Deutschen im besetzten Gebiet die französische Kultur und Lebensart näher zu bringen. Dazu zählte vor allem ein vielfältiges Angebot an Theater- und Musikdarbietungen für die Bevölkerung. Im Mainzer Stadttheater gastierten erstklassige französische Theaterensembles, Orchester und Solisten. Besonders die musikalischen Aufführungen waren zahlreich besucht.[Anm. 23]

    Indessen blieb die wirtschaftliche Situation problematisch. Mainz profitierte nicht im gleichen Maße wie die Städte im unbesetzten Gebiet vom wirtschaftlichen Aufschwung, der Mitte der zwanziger Jahre in Deutschland zu verzeichnen war. Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit prägten nach wie vor das Leben in der Stadt. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt, die sich 1925 nur kurzfristig etwas entspannt hatte, verschärfte sich kurze Zeit darauf bereits wieder. Die Arbeitslosenzahl stieg in Mainz vom Beginn des Jahres 1926 von 4.108 auf 6.070 am Jahresende. Im Januar 1927 entfielen auf 1.000 Einwohner der Stadt 51,6 Erwerbslose, während im Reichsdurchschnitt lediglich 29,4 von 1.000 Einwohnern ohne Arbeit waren. Zahlreiche Einwohner verließen Mainz auf der Suche nach einem Arbeitsplatz, viele wurden zudem durch den Mangel an Wohnraum zum Wegzug gezwungen. Entsprechend negativ verlief die Bevölkerungsentwicklung: 1925 gehörte Mainz mit knapp 106.000 Einwohnern unter allen 45 deutschen Großstädten zu jenen sechs, in welchen die Bevölkerungszahl der Vorkriegszeit (121.000 Einwohner im Jahr 1914) noch immer nicht erreicht worden war.[Anm. 24]

    Während der Ausschreitungen gegen ehemalige Separatisten am 2./3. Juli 1930 demoliertes Geschäftshaus in der Bahnhofstraße in Mainz (Foto: Karl Usinger).[Bild: Stadtarchiv Mainz BPSF/8424A]

    Am 30. Juni 1930 ging schließlich die Besatzungszeit zu Ende. Fünf Jahre früher als im Versailler Vertrag festgelegt verließen die französischen Truppen das besetzte Gebiet. In Mainz kam es kurz darauf zu gewalttätigen Ausschreitungen aus nationalistischen Motiven: In der Nacht vom 2. auf den 3. Juli 1930 wurden die Fensterscheiben von Geschäften und Wohnungen ehemaliger Separatisten und vermeintlicher Sympathisanten der „Rheinischen Republik“ eingeworfen und deren Mobiliar zerstört. Auch Plünderungen kamen dabei vor.[Anm. 25] Am 19./20. Juli beging die Stadt Mainz das Ende der Besatzungszeit mit einer aufwendigen Befreiungsfeier unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und in Anwesenheit des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg.[Anm. 26] Höhepunkt der Feierlichkeiten war die Enthüllung eines von dem Bildhauer Benno Elkan geschaffenen Befreiungsdenkmals auf dem Schillerplatz durch den Reichspräsidenten.[Anm. 27] In die Freude über den Abzug der Besatzungstruppen mischten sich damals unüberhörbare nationalistische und antifranzösische Töne. So rief beispielsweise der Reichspräsident in seiner Festansprache in der mit 5.000 Gästen gefüllten Stadthalle die „Last der Besatzung“ in Erinnerung. Hindenburg sprach von den „Fesseln der Unfreiheit“ und beklagte eine „Unsumme von körperlichem und seelischem Leid, welche die Besatzungszeit dem Lande hier auferlegt“ habe.[Anm. 28]

    Ein Jahr später wurde in Mainz an der Rheinseite des Fischtorplatzes ein Ehrenmal für den 1929 verstorbenen deutschen Reichskanzler, Außenminister und Friedensnobelpreisträger Gustav Stresemann eingeweiht. Die Stadt würdigte damit dessen erfolgreiche politische Bemühungen um einen Ausgleich mit Frankreich, die maßgeblich zum frühzeitigen Abzug der französischen Truppen aus dem Rheinland beigetragen hatten. Die Nationalsozialisten sahen in Gustav Stresemann hingegen einen „Erfüllungspolitiker“ der Alliierten und zerstörten das Stresemann-Ehrenmal nach 1933. Das gleiche Schicksal ereilte schließlich auch das Befreiungsdenkmal, weil dessen Schöpfer Benno Elkan jüdischer Herkunft war.

    Autor: Frank Teske
    Quellenverzeichnis:

    • Mainzer Anzeiger (19.07.1930).
    • Mainzer Anzeiger (21.07.1930).
    • Mainzer Anzeiger (22.07.1930).
    • Mainzer Journal (03.06.1930).
    • Mainzer Tagblatt (03.06.1930).
    • Mainzer Volkszeitung (03.06.1930).
    • Neuester Anzeiger (Mainzer Neueste Nachrichten) (10.11.1918).
    • Neuester Anzeiger (Mainzer Neueste Nachrichten) (03.06.1919).
    • StAMz NL Schreiber/107, Zusammenstellung der bei den separatistischen Unruhen am 2./3.7.1930 entstandenen Schäden und Zeitungskommentare zu diesen Vorfällen.
    • StAMz NL 109/1, Aufruf des Mainzer Arbeiter- und Soldatenrats An die Bevölkerung von Mainz vom 10. November 1918.
    • StAMz 71/49, Rede des Herrn Reichspräsidenten bei der Feier in der Stadthalle zu Mainz am 20. Juli 1930.
    • StAMz 71/91, Amtsniederlegung des Herrn Oberbürgermeister Dr. Göttelmann.
    • StAMz 70/333, undatierter Aufruf der vorläufige[n] Regierung der Rheinischen Republik.
    • StAMz 70/333, Aufruf von General Charles Mangin vom 2. Juni 1919.
    • StAMz 70/333, Zeitungsausschnitt aus der Saarbrücker Zeitung vom 16.6.1919.

    Literaturverzeichnis:

    • Maß, Sandra: Die schwarze Schmach. Kolonialsoldaten im Rheinland 1920–1923, in: Benedikt Burkard (Hg.), Gefangene Bilder. Wissenschaft und Propaganda im Ersten Weltkrieg, Petersberg 2014, S. 123–125.
    • Schütz, Friedrich: Bernhard Adelung rief am 10. November 1918 vor der Stadthalle die Republik aus. Vor 75 Jahren: Das Ende des Ersten Weltkriegs und die Ereignisse in Mainz, in: Mainz. Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft, Geschichte 13 (1993), H. 4, S. 121–128.
    • Schütz, Friedrich: Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg (1914–1945), in: Franz Dumont, Ferdinand Scherf, Friedrich Schütz (Hgg.), Mainz. Die Geschichte der Stadt, Mainz ²1999, S. 475–509.
    • Süß, Martin: Rheinhessen unter französischer Besatzung. Vom Waffenstillstand im November 1918 bis zum Ende der Separatistenunruhen im Februar 1924, Stuttgart 1988.

    Letzte Bearbeitung: 15.09.2020

    Anmerkungen:

    1. Hier und im Folgenden vgl. F. Schütz, Bernhard Adelung rief am 10. November 1918 vor der Stadthalle die Republik aus. Vor 75 Jahren: Das Ende des Ersten Weltkriegs und die Ereignisse in Mainz, in: Mainz. Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft, Geschichte 13 (1993), H. 4, S. 121–128. Zurück
    2. StAMz NL 109/1, Aufruf des Mainzer Arbeiter- und Soldatenrats An die Bevölkerung von Mainz vom 10. November 1918. Zurück
    3. Schütz, Bernhard Adelung (wie Anm. 1), S. 126. Zurück
    4. Die Waffenstillstandsbedingungen wurden von den Mainzer Zeitungen noch am Sonntag, den 10. November, in Extrablättern bekannt gegeben; vgl. z. B. Neuester Anzeiger (Mainzer Neueste Nachrichten) vom 10. November 1918. Zurück
    5. M. Süß, Rheinhessen unter französischer Besatzung. Vom Waffenstillstand im November 1918 bis zum Ende der Separatistenunruhen im Februar 1924, Stuttgart 1988, S. 3–5. Zurück
    6. Mainzer Anzeiger vom 28. November 1918. Auch das Mainzer Journal vom selben Tag sprach von unbesiegten Soldaten. Zurück
    7. Mainzer Anzeiger vom 4. Dezember 1918. Zurück
    8. Hier und im Folgenden vgl. F. Schütz, Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg (1914–1945), in: F. Dumont , F. Scherf, F. Schütz (Hgg.), Mainz. Die Geschichte der Stadt, Mainz ²1999, S. 475–509, hier: S. 480–483. Zurück
    9. Vgl. StAMz 71/91, Amtsniederlegung des Herrn Oberbürgermeister Dr. Göttelmann. Zurück
    10. Vgl. Süß, Rheinhessen unter französischer Besatzung (wie Anm. 5), S.21-23. Zurück
    11. Hier und im Folgenden vgl. Schütz, Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg (wie Anm. 8), S. 484 f. sowie Süß (wie Anm. 5), S. 64–90. Zurück
    12. StAMz 70/333, undatierter Aufruf der vorläufige[n] Regierung der Rheinischen Republik. Zurück
    13. Vgl. die am 3. Juni 1919 veröffentlichten Berichte im Neuesten Anzeiger, Mainzer Tagblatt, Mainzer Journal und in der Volkszeitung. Zurück
    14. So bezeichneten sich die Protagonisten der „Rheinischen Republik“ (vgl. Anm. 12). Zurück
    15. StAMz 70/333, Aufruf von General Charles Mangin vom 2. Juni 1919. Zurück
    16. Ebd. Zurück
    17. StAMz 70/333, Zeitungsausschnitt aus der Saarbrücker Zeitung vom 16.6.1919. Zurück
    18. Hier und im Folgenden vgl. Schütz, Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg (wie Anm. 8), S. 485. Zurück
    19. Süß (wie Anm. 5), S. 174. Zurück
    20. Als kurzen Überblick hierzu vgl. S. Maß, Die schwarze Schmach. Kolonialsoldaten im Rheinland 1920–1923, in: B. Burkard (Hg.), Gefangene Bilder. Wissenschaft und Propaganda im Ersten Weltkrieg, Petersberg 2014, S. 123–125. Zurück
    21. Süß (wie Anm. 5), S. 203 f. Zurück
    22. Schütz, Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg (wie Anm. 8), S. 485 sowie Süß (wie Anm. 5), S. 238. Zurück
    23. Süß (wie Anm. 5), S., S. 50. Zurück
    24. Vgl. Schütz, Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg (wie Anm. 8), S. 486. Zurück
    25. Vgl. hierzu StAMz NL Schreiber/107, Zusammenstellung der bei den separatistischen Unruhen am 2./3.7.1930 entstandenen Schäden und Zeitungskommentare zu diesen Vorfällen. Zurück
    26. Vgl. die Berichte im Mainzer Anzeiger vom 19., 21. und 22. Juli 1930. Zurück
    27. Das Denkmal, das eine aus dem Schlaf erwachende, nackte Frauengestalt darstellte, stieß nicht bei allen Mainzerinnen und Mainzern auf Zustimmung; insbesondere die katholische Kirche störte sich an der vermeintlich obszönen Figur. Zurück
    28. StAMz 71/49, Rede des Herrn Reichspräsidenten bei der Feier in der Stadthalle zu Mainz am 20. Juli 1930. Zurück